Gibt es Ambivertierte?
Melissa Summer, The Myers-Briggs Company
Lesezeit 5 Minuten
Gibt es Ambivertierte?
Die Welt teilt sich in Linkshänder und Rechtshänder. Stimmt's? Nun, wie so vieles im Leben lässt sich das nicht so einfach sagen. Während die meisten von uns, die beide Hände benutzen können, eine Präferenz für die eine oder die andere Hand haben, passen sich einige an ihren eignen individuellen Stil an. So muss ein Kind, das Linkshänder ist und keinen linken Baseballhandschuh finden kann, möglicherweise mit der rechten Hand spielen, um ins Team zu kommen. Das Kind ist nach wie vor „Linkshänder“. Aber an der Art und Weise, wie es Baseball spielt, lässt sich das nicht erkennen. Wer gelernt hat, beide Hände mehr oder weniger gleichmäßig zu benutzen, gilt als „beidhändig“. Das Fremdwort hierfür lautet „ambidexter“, wobei die lateinische Vorsilbe „ambi“ so viel wie „beides“ bedeutet und „dexter“ für den geschickten Einsatz der Hände steht.
Zwei Seiten derselben Medaille
Ähnliches hören wir oft in Bezug auf die Persönlichkeit. Manchen Personen bezeichnen sich als extravertiert, andere wiederum halten sich eindeutig für introvertiert. Doch was ist mit denen, die ganz gern mal allein sind, aber eben auch nicht zu lange ohne Gesellschaft sein möchten? Umgekehrt: Was ist mit denen, die nach einem Tag voller produktiver, erfolgreicher – ja sogar notwendiger – Meetings mit vielen menschlichen Kontakten das Bedürfnis haben, den Vorhang zuzuziehen und mit einem Buch, einer TV-Serie, einem Hobby oder einfach mit ihren eigenen Gedanken allein sein möchten?
Eine der häufigsten Fragen, die sich Menschen stellen, wenn sie herausfinden möchten, welcher Persönlichkeitstyp sie nach Myers-Briggs® sind, lautet: Wie ordne ich mich ein, wenn ich gleich viel Zeit mit mir selbst und mit anderen verbringe? Fast immer kommt dabei heraus, dass alle Menschen beides tun. Diejenigen von uns, die sich gleichermaßen wohl fühlen, wenn sie extravertiert und introvertiert sind, können sich also ambivertiert bezeichnen, oder?
Nun, es stimmt, dass Menschen von Natur aus soziale Wesen sind, aber wir alle brauchen – gelegentlich dringend – Zeit für uns selbst. Zeit, in der wir in unser Inneres blicken, meditieren, unsere Gedanken und Gefühle niederschreiben oder einer anderen Tätigkeit allein nachgehen – vielleicht gamen, lesen, laufen, surfen oder am Sonntagnachmittag ein Nickerchen halten.
Gleiches gilt umgekehrt: Während der jetzt langsam zurückgehenden Coronapandemie hatten viele von uns, die sich immer als introvertiert bezeichnet haben, in den letzten Jahren genug Zeit für sich allein verbracht und suchen nach Möglichkeiten, mehr Zeit mit anderen Menschen außerhalb des Hauses zu verbringen. Vielleicht sollten wir uns also nicht als „ambivertiert“, sondern einfach als „menschlich“ bezeichnen.
Wir alle tragen einen introvertierten und einen extravertierten Teil in uns. Dennoch gibt es nach der Theorie der Persönlichkeitstypen,auf der der Myers-Briggs Type Indicator® basiert, keine „ambivertierten“ Menschen.
Ambivertierte: Sowohl als auch
Persönlichkeitspräferenzen wie Extraversion und Introversion sind in unserem Gehirn fest verankert – genau wie Rechts- oder Linkshändigkeit. Aber auch als Rechtshänder können Sie etwas mit Ihrer linken Hand anfangen. Viele üben sogar den Einsatz ihrer nichtdominanten Hand so intensiv, dass aus ihnen Beidhänder werden. Das erfordert viel Übung, kann aber dazu führen, dass man in vielen Bereichen vielseitiger ist.
Ebenso gilt: Unabhängig davon, ob eine Person lieber extravertiert oder introvertiert ist, wird sie im Laufe ihres Lebens unweigerlich ein breites Spektrum an Verhaltensweisen erlernen, die ihr im Leben weiterhelfen. Zu diesen Verhaltensweisen gehören sowohl extravertierte als auch introvertierte Präferenzen, die – je nach Situation und in unterschiedlichem Ausmaß – notwendig sind, um als Mensch effektiv zu funktionieren.
Einige denken dabei vielleicht an eine Präferenz in einem bestimmten Bereich ihres Lebens und gehen davon aus, dass sie aufgrund dieser Präferenz zwangsläufig als introvertiert oder extravertiert gelten. Im beruflichen Kontext sind recht introvertierte Verhaltensweisen anzutreffen, insbesondere bei Tätigkeiten, die jemand allein ausübt. Denken Sie an Bibliothekare, Forscher oder Schriftsteller. Wer in einem solchen Beruf tätig ist, sehnt sich möglicherweise nach Gesellschaft, etwa im Rahmen von Versammlungen, Konferenzen oder After-Work-Partys.
Andere wiederum arbeiten vielleicht mit vielen kontaktfreudigen, geselligen Leuten zusammen und lassen sich auch von deren Energie anstecken. Trotzdem würden sie ihr eigenes Verhalten als introvertiert bezeichnen. Dann fallen Sätze wie: „Ja, wir haben viel Spaß im Büro, aber es muss auch einen ruhigen, nachdenklichen Typ geben – und das bin ich.“
Zwanglos und unverstellt: Sind Sie introvertiert oder extravertiert?
Wenn Sie das erste Mal den Myers-Briggs Type Indicator (MBTI®) machen, versuchen Sie sich die Situation so vorzustellen, als hätten Sie keine Schuhe an. Das heißt, die authentischste Version Ihrer Person. Sie sind ganz Sie selbst. Niemand erwartet eine Antwort von Ihnen, will ihr Verhalten beeinflussen oder Anforderungen an Sie stellen.
Wenn Sie am Arbeitsplatz ein bestimmtes Verhalten zeigen, in der Familie oder im Freundeskreis aber ein anderes, werden Sie wahrscheinlich nicht die authentischsten Ergebnisse erzielen.
Es geht um menschliche Persönlichkeitseigenschaften, nicht um einen mathematischen Aspekt des Universums wie die Lichtgeschwindigkeit oder die Umrechnung von Quadratmeter in Hektar. Immer wieder kommt die Frage auf, was es mit den MBTI-Typen auf sich hat und wie sich der eigene Typ am besten feststellen lässt.
Oft wird gefragt, ob sich der MBTI-Typ im Laufe des Lebens ändern kann.. Es mag etwas kompliziert erscheinen, doch die Theorie lässt sich im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: Jeder von uns hat eine natürliche Präferenz für Extraversion oder Introversion, und diese Präferenz bleibt in Regel unser ganzes Leben lang bestehen. Andere Faktoren ändern sich hingegen, beispielsweise unser Verhalten bei Stress, die Anforderungen unseres Umfelds und unsere Wahrnehmung von Ereignissen in unserem Leben – insbesondere mit zunehmendem Alter und neuen Erfahrungen. Möglicherweise wird uns bewusst, dass wir uns auf bestimmte Dinge konzentriert haben, während wir andere, genauso wichtige vernachlässigt haben. Diese Erkenntnis kann uns zu vorübergehenden Verhaltensänderungen veranlassen und eventuell sogar dazu führen, dass wir die Fragen im MBTI-Fragebogen anders beantworten. Dieses Phänomen wird, womöglich wenig überraschend, als „Midlife-Theorie“ bezeichnet. Veränderungen in unserer Wahrnehmungen können aber auch mit veränderten Umständen zusammenhängen, etwa wenn wir beruflich einen anderen Weg einschlagen, weil bei neuen Tätigkeit introvertiertes Verhalten eher belohnt wird. Unabhängig von der Ursache sind solche Verhaltensänderungen selten von Dauer. Anders ausgedrückt: Wer sein Verhalten oder Umfeld ändert, behält seine natürlichen Präferenzen typischerweise dennoch bei.
Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, ob sich MBTI-Typen ändern, folgen Sie diesen Links zu einem kurzen animierten Video (auf Englisch) und einer detaillierten Erläuterung der MBTI-Expertin Dr. Rachel Cubas-Wilkinson (auf Englisch). Oder hören Sie sich an, was Rachel in The Myers-Briggs Company Podcast (auf Englisch), Staffel 1, Folge „Inclusive Leadership“ zu sagen hat, wo immer Sie Podcasts hören.
War Beethoven Linkshänder?
Befassen wir uns noch etwas mehr mit Ambiversion. Genauer als die Substantive „Extraversion“ und „Introversion“ wären eigentlich die entsprechenden Verben, „extravertieren“ bzw. „introvertieren“. Sobald wir die Theorie der Persönlichkeitstypen genauer verstehen, können wir besser nachvollziehen, dass zwar jeder Persönlichkeitstyp ein „E“ oder ein „I“ in sich trägt, die Typendynamik jedoch beschreibt, wie die vier Buchstaben oder Präferenzen in jedem Typ zusammenwirken (auf Englisch). Unabhängig von unseren Präferenzen ist immer ein Teil unserer Persönlichkeit extravertiert und ein anderer introvertiert.
Gerüchten zufolge war Ludwig van Beethoven Linkshänder, denn angeblich wurde er beim Komponieren mit einem Federkiel in der linken Hand gesehen. Doch aus seiner unvergänglichen Musik können wir nicht heraushören, welche Hand er bevorzugte. Ein Klavier klingt immer gleich, egal ob der Pianist Links- oder Rechtshänder ist. Denn beide Seiten erzeugen im Zusammenspiel eine ausgewogene Wirkung. Auf ähnliche Weise wirken die Effekte der Extraversion und Introversion zusammen und machen uns zu der Person, die wir sind – ungeachtet unserer Präferenz für das eine oder das andere.
Folglich gibt es keine „Ambivertierten“, auch wenn dies die besonders Extravertierten, aber doch sehr Introvertierten unter uns gern glauben. Wir können Extraversion und Introversion nicht in gleichem Maße bevorzugen. Das eine wird immer stärker ausgeprägt sein als das andere, wenngleich es nicht immer dominant erscheinen mag. Wir können jeden Tag beide Präferenzen anwenden und tun dies auch.
Was wir in der Außenwelt tun (extravertieren) und was wir in der Innenwelt tun (introvertieren), zeigt uns, wie die Teile unserer Persönlichkeiten zusammenwirken. Das ist ein Bestandteil der als Typendynamik (auf Englisch) bekannten Theorie. Wenn Sie sich allein oder in Gegenwart von Menschen gleichermaßen wohlfühlen, haben Sie wahrscheinlich ein Gleichgewicht und Flexibilität hergestellt, indem Sie „beide Seiten“ Ihrer Persönlichkeit ausleben. Die sogenannte Ambiversion weist auf ein hohes Maß an persönlicher Entwicklung hin. So sind die betreffenden Personen in der Lage, selbst zu bestimmen, wie sie sich in einer unvorhersehbaren Welt voller unerwarteter Situationen am besten verhalten.Dennoch hat jeder von uns eine Präferenz für Extraversion oder Introversion. Das ändert sich auch nicht.
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